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Hängung 2024 

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Die Welt beginnt mit einem Ja
Werke aus dem Atelier und der Sammlung von Anton Henning

Kuratorisches Statement von Jana Noritsch

 

Der Blick in jedes Atelier und jede Privatsammlung ist intim. Da es sich bei den Werken in der Sammlung von Anton Henning häufig um Geschenke handelt, zeigt sich uns hier neben den unterschiedlichen Bildsprachen der jeweiligen Werkautoren wie durch Puzzleteile insgesamt ein Bild, das sie vom Beschenkten haben. Erneut erlebte ich bei meiner zweiten intensiven Begegnung mit Anton Hennings Sammlung ihre mit Freundschaft, Liebe und Anekdoten verwobene Genealogie: Eine ihn täglich umgebene sinnliche Tiefe wurde deutlich. Dazu gesellen sich kontinuierlich Arbeiten, die er getauscht oder erworben hat. Sammlungsimmanent gibt es Werke aus verschiedenen Zeiten, Kulturräumen und in unterschiedlichen Techniken zu sehen. Dies ist die zweite Hängung aus dem Fundus der Privatsammlung von Anton Henning im Antonymen Salon, die diesmal in einen Dialog tritt mit – teilweise bislang nicht gezeigten – Werken von Anton Henning.
Es gibt Werke, die uns das Sein verdunkeln und Arbeiten, die erhellen: Man muss den Grad kennen, bis zu dem man mit der Erhellung gehen kann, ohne eine Zerstäubung der Dinge im Licht herbeizuführen; und man muss die Schatten kennen, die zur Erhaltung der Konturen notwendig sind. Für mich
 ist diese Hängung mit all ihrem Pluralismus letztendlich ein experimenteller Prozess zur Rehabilitierung von Welt-Auseinanderbrechen, Vernichtung, Asche 

 

„Die Welt beginnt mit einem Ja“

Kabinett 1: Ein Strich, der alles verändert [o.T., 1992], ein Tropfen, der Neues hervorzubringen vermag [siehe oben: Taste No. 3, 2013], ein L'Origine du monde [Pin-up No. 316, 2024] – die Welt beginnt mit einem Ja.

Anton Hennings[1] innerbildliche Kompositionen führen uns oft gestaltwandlerische Narrative vor Augen – und häufig tiefer in den Bildraum hinein. Wie auch Hennings Malerei, Skulpturen, Zeichnungen und sogar Aneignungen [Pin-up No. 141, 2009] eröffnen seine Poesie sowie die Many Modern Films 1997-2000 [The Manker Melody Makers, Video 56 min., 1997] neue Sphären. Die kleine Kabinettausstellung mit Werken von Henning aus den Jahren 1992 bis 2024 lässt uns Sinnlichkeiten imaginieren, suggeriert erweiterte Räume und gibt zusätzlich Einblicke in das umfassendere Œuvre des Künstlers.

Für seine künstlerische Auseinandersetzung mit der Klassischen Moderne ist Anton Henning bekannt, hier werden allerdings die unterschiedlichen Verschmelzungsgrade deutlich: Einerseits verlangen uns die mittels Strich, Palette und Stimmung hergestellten kunsthistorischen Bezüge sowohl beim Blumenstillleben [o.T., 1996] als auch bei dem von Einsamkeit geprägtem Raum [o.T., 2005] die Selbstbefragung nach Gesehenem, tatsächlich Wahrgenommenen oder Gelerntem ab.

Andererseits bringt die 10-teilige Leinwandarbeit den eigensinnig-humorigen Henning hervor, wenn – wie in Filmstills festgehalten – The sudden and unexpected option for modernism No. 2 [2000] einen neugierigen, vielleicht genusssüchtigen Hennling durch neun Szenen tanzend zeigt. Darin verfängt sich ein Bedauern hinsichtlich des Endes der Moderne, und unmittelbar befragt uns One Beautiful Tomatoe in a Room [1992] nach der Immanenz des Augenblicks. Wie zustimmend und in voller Schönheit ruhend: ein plastisches Blumenstilleben [No. 371, 2007]. Über allem erhaben und schwer elegant-divenhaft: das Pin-Up No. 291 [2023]. 

 

Kabinett 2: Zunächst wirkt „Die Welt beginnt mit einem Ja“ wie eine recht frühlingshafte Mischung aus allen Zeiten und Genres, die im ersten Moment vor allem von Lust, Liebe, Weiblichkeit, Schönheit zeugt. Bei näherer Betrachtung der 36 Kunstwerke wird viel Kritik offenbar, sodass schnell als bewiesen gilt: Ohne Nein gibt es kein Ja!

Ganz im Sinne von Mathew Hale, der einmal schrieb „The World began with a Yes“ und in der Ausstellung mit zwei Papiercollagen seiner Miriam-Stealing[2]-Serie vertreten ist, erkennen wir, dass das Ja des Ursprungs von uns unaufhörlich bestätigt und entschieden werden muss; und dass dies richtig harte Arbeit ist.
 

Beispielhaft ist diesbezüglich für mich die Leinwandarbeit von Henning Kles, der im Portrait fragmentiert, Gesichtsteile aneinander- oder überlappend positioniert, verschiebt oder verzerrt – und sich so den Fragen der "Identität, Konsumkultur oder der Fragilität der Realität"[3] nähert. Dies tut in seiner Arbeit auf ganz andere Weise Julian Rosefeldt, der mit Stunned Man als zweiten Teil seiner Trilogie des Scheiterns[4] filmische „Allegorien unserer verzweifelten und letztlich vergeblichen Versuche [visualisiert], den uns umgebenden Normen, Zwängen, Strukturen und Ritualen zu entkommen, die uns bestimmen.“[5] Gleich unter dieser Fotografie sehen Sie von Beck/Huber Der Trauzeuge 1989/98 – aus der Serie „Seltsame Ereignisse“: Im Grunde eine Auskopplung der gleichnamigen Installation in der Ausstellung „Dem Herkules zu Füßen“[6] im Museum Fridericianum in Kassel entstammend. Hier bekommt das sogenannte Ja-Wort noch einmal eine andere Bedeutung.
Wie ein drastischer Kommentar dazu ist nun links an der Wand Dan Reeders augenlose, gestückelte Figur zu sehen: Der Slogan „If thy right eye offend thee and etc.“ ist der dritte Vers zum Thema Ehebruch des Matthäus-Evangeliums im Neuen Testament, Matthäus 5,29. Und in direkter Sichtachse lauert der vermeintlich milde Blick der von Konventionen durchtränkten Gattin des 1861 in Templin geborenen Malers Johannes Adolf Tillack. 1931 malte er seine Ehefrau und, wie das Etikett verso verrät, 1937 wurde das Gemälde in die „Große Deutsche Kunstausstellung“ im Haus der Deutschen Kunst in München eingereicht und angenommen.
Etwa zur selben Zeit wurde der 1907 in Sibirien geborene Foma Jaremtschuk der „Verleumdung der UdSSR“
[7] beschuldigt und in ein Arbeitslager gesperrt. Die verbleibenden 50 Jahre seines Lebens blieb er hinter Gittern, seit 1947 in wechselnden geschlossenen Psychiatrieanstalten. Bis 1963 entstanden etwa 500 Zeichnungen, die ein Arzt aufbewahrte. Eines dieser Blätter verweist derzeit im Antonymen Salon auf inhumane Vorgänge wie Unterdrückung, Ausbeutung und unrechtmäßigen Freiheitsentzug.
Das bedrückende Gefühl des Ausgeschlossenseins setzte Rachel Whiteread mit „House“
[8] um. Die Fotoarbeit der im Osten Londons gelegenen, gesellschaftskritischen Skulptur zeigt ein uns an sich recht vertrautes, wenngleich brutalistisches Haus, dessen Türen und Fenster jedoch nicht zu öffnen sind. Während es hier kein Hineinkommen gibt, verdreht die israelische Performance- und Installationskünstlerin Yael Davids Körperteile und -öffnungen zu Tischen und Schemeln. Durch den Einsatz des kompletten Körpers lenkt die documenta-Teilnehmerin (2017) unsere Achtsamkeit auf die „Schnittstelle zwischen persönlichen und politischen Erzählungen“[9] und formt neue Bedeutungen aus, was stets in ihrer Frage mündet: Was verteidigen wir eigentlich?
Kurz nach Erscheinen des Pandämonischen Manifests von Eugen Schönebeck und Georg Baselitz gegen das „vorherrschende Diktat der Abstraktion“ und für alles „Hässliche und Obszöne in der figurativen Malerei“
[10], zeichnete Eugen Schönebeck ein entsprechendes, betont männliches Geschöpf auf einem Aquarellpapier namens De Staël, wobei diese Bezeichnung mittels einer dunklen Wolke fast vollständig verdeckt ist.

Etwas überhöht, nahezu in der Ausstellung thronend: das Ketamin in der Arbeit von Sibylle Springer[11]. Zweifelsohne auch in medizinischen Kontexten einsetzbar, steht das bewusstseinserweiternde Mittel zumindest sinnbildlich für die Hochzeit der Partydrogen im Zwanzigsten Jahrhundert.

Indem Justin Lieberman in seinem Diptychon die einerseits gesammelten Flyer in monochromatische Farb(-„durchschnitts“[12]-) flächen überträgt, erinnert mich besonders dieser zweite abstrakt-polychrome Werkteil an einen Text von Max Bense darüber, was das Betrachten des Meeres auslöst:

„Doch das Meer erregt den Sinn für Fläche. Für Flächen, die sich anbieten, die etwas zeigen wollen. […] Aber man muss etwas hinzudenken; unmöglich das Meer auf sich beruhen zu lassen, man muss etwas hergeben, damit es an Bedeutung, an Macht, an Fruchtbarkeit gewinnt. […] Erbarmungslos und tückisch stellt die Fläche ihre Forderungen an die Einbildungskraft und einmal aufgedeckt enthüllt sie die Mängel derer, denen sie sich preisgab. Geistige Armut stellt sich immer mit den Zeichen der Mutlosigkeit ein, wenn eine Wüste anwächst oder das Meer vordringt, wenn eine Fläche über die Einbildungskraft Macht gewonnen hat und diese nicht ausreicht, ein wenig Wildnis in unsere Hoffnung zu tragen.“ [vollständig unten][13] So gesehen lässt Lieberman den Betrachtenden Bedeutung zukommen; all jenem, das wir mitbringen und in Bildwerke hineingeben.

 

Etwas Wildnis in unsere Hoffnung tragen… Wir wären nicht bei Anton Henning, wenn es nicht Schönheit, Verführung, Weiblichkeit, Genuss gäbe!
Seduktiv die Bildwerke von Ernst Ludwig Kirchner, Barbara Klemm, Giovanni Pisano – Werkstatt oder Nachfolger, Susi Pop, Tal R, Anne Katrine Dolven, Marliz Frencken, Jürgen Klauke, Aram Stephan und Kitagawa Utamaro.

Wie ein Pendant zu letzterer japanischer Dame: die zeitgenössische Malerei von Hiroshi Sugito.
Mit ihrer unterschiedlich graduellen Weichheit setzen die Arbeiten von Miroslav Tichy, Martin Assig, Unbekannt (JHO) und Jasper Hagenaar Gegenpole zu den kritischen, teils arg zynischen Werken von George Condo, William Copley, Sean Landers und Thomas Palme.
Die Rote-Beete-Steinbutt-Zeichnung von Antony Gormley hingegen birgt eine weitere ganz persönliche Geschichte der freundschaftlichen Begegnung mit Anton Henning.

 

So findet sich mit jedem Werk ein individueller Kosmos, der seinerseits eigene Räume öffnet. Und insgesamt ergeben sich durch unsere Hängung in den Kabinetten neue Dialoge, streitbare Themen und gerne intensive Gespräche. Herzlich willkommen!

 

Laufzeit der Kabinettausstellung: 27. April 2024 bis 31. März 2025

 

 

[1] www.antonhenning.net

[2] Vgl. https://artmap.com/wentrup/exhibition/mathew-hale-2008

[3] Vgl. https://affenfaustgalerie.de/de/artist/henning-kles

[4] Julian Rosefeldt’s Trilogy of Failure (2004/2005) s. https://www.julianrosefeldt.com/film-and-video-works/stunned-man-2004/#info

[5] (ebd.) zit. nach Stefan Berg und Katerina Gregos, in: Julian Rosefeldt: Film Works (2008)

[6] Den Katalogtext schrieb Christoph Blase. Die Arbeit des Künstlerduos Beck/Huber endete 2004 mit dem Tod von Stefan Beck. Patrick Huber: http://www.patrickhuber.de 

[7] Vgl. https://edcat.net/item/foma-jaremtschuk/

[8] s. https://www.artsy.net/article/artsy-editorial-rachel-whitereads-house-unlivable-controversial-unforgettable

[9] Vgl. https://www.documenta14.de/en/artists/10534/yael-davids

[10] Dorothea Zwirner Tagesspiegel vom 13.12.2019, https://www.tagesspiegel.de/kultur/fur-immer-schluss-3202600.html

[11] www.sibyllespringer.com

[12] Werktitel: Elective Affinities with Monochromatic Color Average Shift

[13] Max Bense (o.J.): „Doch das Meer erregt den Sinn für Fläche. Für Flächen, die sich anbieten, die etwas zeigen wollen. […] Aber man muss etwas hinzudenken; unmöglich das Meer auf sich beruhen zu lassen, man muss etwas hergeben, damit es an Bedeutung, an Macht, an Fruchtbarkeit gewinnt. Immer wieder einmal gedenkt man hier der alten Rolle der Gewässer in der Genesis des Geistes, der Vernunft, der Spiele, der Unzucht, der Schönheiten, des Todes und der Phantasie und dann füllt sich die Reflexion mit wehenden Vorstellungen von Pracht, Luxus, Reichtum, Überflüssigkeit, Abenteuer, Schöpfung und Erschöpfung, die angesichts der grossen, freien und bewegten Fläche begünstigt werden. Athen und Antibes, Antike und Picasso, es ist immer ein Meer, das um sie schlägt, das sie entzündet und ausbreitet. Erbarmungslos und tückisch stellt die Fläche ihre Forderungen an die Einbildungskraft und einmal aufgedeckt enthüllt sie die Mängel derer, denen sie sich preisgab. Geistige Armut stellt sich immer mit den Zeichen der Mutlosigkeit ein, wenn eine Wüste anwächst oder das Meer vordringt, wenn eine Fläche über die Einbildungskraft Macht gewonnen hat und diese nicht ausreicht, ein wenig Wildnis in unsere Hoffnung zu tragen.“ Auszug aus: „Attribute Epikurs. Dünnschiffe und Rätsel in Prosa von Max Bense“, Manuskript-Kopie Seite 5-6, vmtl. aus: „Das Auge Epikurs. Indirektes über Malerei“, Stuttgart: DVA Deutsche Verlagsanstalt, 1979

 

Abbildungen: © Anton Henning, VG Bild Kunst Bonn 2024; © Giovanni Pisano - Werkstatt oder Nachfolger; © Henning Kles;  Fotografie: © Jörg von Bruchhausen

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